Die Brück’ am Tay

18. FEB. 2024 I 1001kinderbuch

Autor: Theodor Fontane; Illustration: Tobias Krejtschi; Verlag: Kindermann; Altersempfehlung: ab 6 Jahre; Erscheinungsjahr: 2020; Seiten: 24; Einband: gebundes Buch (Halbleinen)

Theodor Fontanes „Die Brück’ am Tay“ — ein historisches Gedicht über ein furchtbares Zugunglück während eines Sturmes mystisch und phantastisch illustriert von Tobias Krejtschi

Ein schwieriges Gedicht wird durch die magischen Illustrationen Tobias Krejtschis selbst kleinen Kindern zugänglich gemacht: Am 28. Dezember 1879 bricht in Schottland bei einem gewaltigen Sturm die neugebaute Brücke über den Meeresarm „Firth-of-Tay“ zusammen und reißt einen Zug mit 75 Menschen gewaltsam in den Tod. In seiner Ballade (d.h. ein erzählendes, oft langes und tragisch endendes Gedicht) erzählt Fontane von dieser menschlichen Katastrophe.

Am Anbruch des Abends und während ein schwerer Sturm aufzieht, stehen Johnies Eltern am Fenster mit Blick auf die neu errichtete Brücke. Es ist Weihnachten und sie schauen gebannt in die Nacht, ob der Zug, mit welchem sie Johnie erwarten, schon zu sehen ist. Johnies Mutter ist besorgt, doch der Vater beruhigt sie: Da sind schon die Lichter des Zuges zu sehen! Alle Kerzen sollen zur Feier der Ankunft am Weihnachtsbaum brennen! Jetzt werden sie gleich ihren Sohn in die Arme schließen!

Im Zug, welcher unter Orkanböen über die neue Brücke dahinschießt, sitzt Johnie mit gleicher Vorfreude. Bevor die neue Brücke gebaut worden war, musste er so oft die Feiertage alleine verbringen, da er seine Eltern nicht über den Fluß erreichen konnte. Doch nun ist er stolz: Menschliche Klugheit und Handwerk haben eine Brücke über den Fluß errichtet, welche das Meer wie die schrecklichen Winde der Nordsee bezwang!

Doch nun, als Johnies Eltern wieder ans Fenster treten, in Sorge, da der Sturm noch einmal zugenommen hat, geschieht ein unermessliches Unglück.

Fontane rahmt das Gedicht mit dem Zusammentreffen unheimlicher Mächte: Drei Hexen treffen sich zu Beginn und am Ende des Gedichtes und planen das Unglück: Mit ihren übernatürlichen Kräften wollen sie die Brücke zum Einsturz bringen. Am Ende des Gedichtes wollen sie berichten, wie erfolgreich sie waren. Alles, was Menschen erschaffen, so sagen sie, sei bedeutungslos.

Das Gedicht ist in seinem Aufbau komplex, aber auch für ganz junge Kinder in seinen Grundstrukturen verständlich: Der Sohn sitzt im Zug und erzählt über die tolle neue Brücke. Die Eltern erwarten ihn. Der Zug verunglückt. Sie können auch die Gefühle der teilnehmenden Personen nachvollziehen: Die Sorge und die Vorfreude.

Ältere Kinder können die komplexeren Fragen, welche das Gedicht an uns richtet, aufnehmen: Warum verunglückt der Zug? Warum war Johnie so stolz auf die Brücke? Wie erfährt der Leser vom Zugunglück?

Tobias Krejtschi macht das Gedicht seinen Lesern erfahrbar. Er wählt für die Illustration des Gedichtes eine ganz eigene Form und Farbsprache: Das ganze Gedicht taucht er in dunkle Blau- und Violettöne. Damit nimmt er sowohl die finstere Stimmung des Orkans wie die schwarze Magie der Hexen auf. Seine Formsprache ist plakativ, karikaturesk. Damit kann er sowohl kleinere wie ältere Kinder ansprechen. Das Wunderbare ist, dass Krejtschi nun seine eigene Geschichte zu erzählen beginnt. Er zeigt, wie er sich Johnie und seine Eltern vorstellt. Wie sehen sie aus? Wie leben sie? Was machen sie? 

Damit macht er das Gedicht Kindern, die der Text Fontanes allein überfordern würde, zugänglich: Ach, das sind die Brückner, Johnies Eltern, die die Brücke in Stand halten! Und sie stehen am Fenster und sehen hinaus! Und was sehen sie? Und wie sind sie erst in Sorge und dann in verschmitzter Freude!

Ältere Kinder können durch die Illustrationen auch sehen, dass Krejtschi hier seine Sicht auch das Gedicht schildert. Dies ist seine Geschichte: Krejtschi sieht Johnie und seine Eltern als wohlsituiertes Bürgertum. Sie haben Geld: Der Tisch ist mit einen schönen Kaffeeservice gedeckt. Die Möbel sind gepolstert. Johnie hat eine schicke Taschenuhr. Wie Johnie sich auf den Bildern verhält, zeigt, wie selbstsicher er ist: Er glaubt an den industriellen Fortschritt. Er ist begeistert und stolz. Dies zeigt sich auch an seiner Haltung, wie er sich vorbeugt, wie er lässig seine Hand in seine Weste steckt.

Aber Krejtschi geht noch darüber hinaus: Er webt nun neue Ebenen in die Bilder: Die schwarze Wolke des Zuges auf dem Cover zeigt auf den zweiten Blick einen Totenschädel, welcher das Unglück ankündigt. Eine schwarze Katze schleicht um die Beine von Johnies Eltern und ist ein Vorbote der bösen Hexen. Krejtschi hängt sein eigenes Porträt an die Wand der Brückner und verwischt damit die Ebenen zwischen Fiktion und Realität.

Damit setzt Krejtschi Maßstäbe in der Kinderbuchillustration. Er nimmt jüngere wie ältere Kinder mit. Er zeigt ihnen die Vielschichtigkeit des schwierigen Textes Fontanes. Er nimmt die Kinder Ernst und gleichzeitig verliert er nie seine Freude am Spiel mit Farben und Formen. 

Das Schöne an der Gedichtsillustration ist, dass zum einen ein Zugang zum Werk für ganz viele Menschen geschaffen werden kann. Zum anderen wird aber gleichermaßen gezeigt, dass es ganz unterschiedliche Lesarten eines Werkes gibt.

Wenn Kinder lesen, entwickeln sie ein Verständnis für das Leben anderer. Sie hören und spüren, wie es anderen geht. Gute Literatur zeigt, dass die Welt oft ganz schwierig ist. Wenn Kindern einen Zugang zu einem Gedicht wie „Die Brück’ am Tay“ geebnet wird, werden ihnen Welten von Ideen und Gefühlen und Sichtweisen eröffnet. 

Der Kindermann Verlag hat hier hier ein Buch herausgegeben, das jüngeren wie älteren Kindern wie Erwachsenen, die vielleicht bislang noch keinen Zugang zur Dichtung gefunden haben, die Schönheit wie Schwere von Poesie zeigt. Er macht mit diesem Buch ganz große Literatur ganz vielen Menschen zugänglich. Das ist ganz groß.

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