Der erste Schritt

28. Juli 2024 I 1001kinderbuch

Autor und Illustration: Pija Lindenbaum; Altersempfehlung: ab 4 Jahre; Übersetzung: Jana Hemer; Originaltitel: Vitvivan och Gullsippan; Verlag: Klett Kinderbuch; Erscheinungsjahr: 2023; Seiten: 48; erhältlich als fester Einband

Pija Lindenbaums „Der erste Schritt“

© www.klett-kinderbuch.de

Wie verhält sich eine Gruppe von Kindern, wenn die einen gut behandelt werden und die anderen nicht gut behandelt werden? Pija Lindenbaums „Der erste Schritt“ ist ein spannendes und tiefgründiges Experiment über menschliches Handeln und die revolutionäre Kraft von kritischen Nachfragen.

Die Geschichte beginnt ganz unschuldig: Auf farbenfrohen Bildern sehen wir ein idyllisch anmutendes kleines Dorf in den Bergen. Ein junger Erzähler schildert uns, dass er gemeinsam mit anderen Kindern und einer Aufseherin, der Schäfin (dargestellt als eine übergroße Hündin), in insgesamt vier Häusern wohnt. In dem Haus mit den roten Fensterläden wohnen die Ringelblumen. Im Haus mit den grünen Fensterläden wohnen die Primeln. Im Haus in der Mitte essen sie und im Baumhaus wohnt die Schäfin. Überall dürfen die Kinder herumstreunen, nur nicht über die Linie. Über die Linie, welche die Hausgemeinschaft einkreist, darf niemand treten…

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Wir hören vom Alltag in den Häusern, vom Spiel und Spaß, vom Tanzen und Lernen. Doch irgendetwas stimmt nicht in dieser Idylle. Mit immer mehr Details schildert der Erzähler, dass die Ringelblumen doch ein erheblich besseres Leben auf dem Berg haben als die Primeln. Während die einen zu Abend essen, tischen die anderen auf. Wenn die einen schwimmen, halten die anderen die Handtücher bereit. Ist das eigentlich immer so richtig, fragt sich nach und nach der junge Autor. Bis er eines Tages eine tollkühne Idee hat: Vielleicht sollten die Ringelblumen und Primeln einmal von der Schäfin unbemerkt die Rollen tauschen…

Pija Lindenbaum wählt spannende Perspektiven und hat eine unfassbar schöne Bildsprache entwickelt. Ihre Illustrationen bieten einen doppelten Boden, einen kritischen Hintergrund für die Erzählung, die wir von unserem jungen Erzähler hören. Wenn man die Geschichte liest und dabei die Bilder betrachtet, so erzählen die Bilder uns eine andere Geschichte als die, die wir vom Text hören. Die Bilder stellen den Text infrage. Die Bilder kontextualisieren. Die Bilder geben dem Text eine neue Tiefe.

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Pija Lindenbaum entwirft eine Dystopie, aus welcher Kinder auf friedliche Art entfliehen können. Sie zeigt damit, wie man unmoralischen und ungerechten Strukturen entkommen kann, und sie zeigt es für Kinder auf eine ganz wunderbar ehrliche, klare und hoffnungsvolle Art und Weise. Das macht dieses Buch zu einem beeindruckenden Kinderbuch.

Der Erzähler des Buches „Der erste Schritt“ erzählt uns nicht, warum die Gruppen so eingeteilt sind, wie sie eingeteilt sind, und aus den farbenfrohen Bildern und doppelbödigen Illustrationen Lindenbaums können wir dies auch nicht erkennen. Kinder ganz unterschiedlicher Körpergröße, Haarfarbe, Hautfarbe, Augenfarbe sind durchgemischt. Wir wissen nicht, was die Faktoren sind, die die Schäfin dazu gebracht hat, die Gruppen so einzuteilen, wie sie sie eingeteilt hat. Was wir aber erfahren, ist, dass der Schäfin sehr daran gelegen ist, die Gruppen so zu lassen, die Ordnung so bestehen zu lassen, wie sie ist.

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Pija Lindenbaum beschreibt ganz wunderbar, wie die Schäfin ihre Macht verliert, weil langsam ihre Ordnung zu bröckeln beginnt. Es sind anscheinend nur kleine Sachen,zum Beispiel dass der Topf, den die Schäfin zum Haare schneiden benutzt hat, plötzlich verschwindet. Damit kann Stück für Stück ihre klare Ordnung aufgebrochen werden. Die absurde Vereinheitlichung der Kinder wird dadurch aufgehoben. Jeder kann ein stückweit mehr sein, wer er ist. Dies ist einer der Faktoren, der letztendlich zum Sturz dieses ungerechten Staates führt.

Pija Lindenbaums Buch ist auch deshalb so tief und interessant, weil es auf unaufgeregte und undramatische Weise über einen Umsturz berichtet. Es findet eine friedliche Revolution statt: Die Kinder rebellieren. Die Kinder unterlaufen eine Ordnung, die sie als ungerecht erkennen. Die Kinder tun dies aber auf ihre eigene behutsame Art und Weise. Sie tauschen zum Beispiel einfach die Rollen, sie verstecken wichtige Machtinstrumente (wie zum Beispiel den Topf zum Haare schneiden), sie wagen es über Grenzen zu springen, die ihnen gesetzt wurden, und letztendlich machen sie dann das, was vielleicht das einzig Richtige ist, wenn man sich in einer ungerechten und ungesunden Situation befindet, nämlich die Koffer zu packen und zu gehen.

Pija Lindenbaum nimmt Kindern die Angst vor einem Kampf gegen ungerechte Systeme. Denn die Schäfin geht ganz ruhig unter. Die Macht der Schäfin schwindet mit jedem Tag und letztendlich schläft die Schäfin ein (ein wunderschönes Bild). 

Es ist das Traurige an der menschlichen Geschichte, dass der Kampf gegen ungerechte Systeme, gegen ungerechte Machtstrukturen meistens kein sanfter Kampf gewesen ist, sondern ein Kampf der Menschenleben gekostet hat, der Verletzungen gekostet hat, bei dem es oftmals zu schwersten Rechtsbrüchen gekommen ist. Es gibt aber auch in der Geschichte wunderbare Beispiele für eine solche friedliche Revolution und es gibt wunderbare Beispiele von Menschen, die so eine sanfte Revolution propagiert haben, allen voran Vordenker wie Mahatma Gandhi oder Martin Luther King.

Pija Lindenbaums Buch „Der erste Schritt“ ist eines der wenigen Kinderbücher, die sich eines so komplexen Themas auf so kindgerechte Art annehmen. Ein meisterhaftes Kammerspiel für Kinder über die Höhen und Abgründe menschlichen Handelns.

Ausgezeichnet übersetzt wurde „Der erste Schritt“ von Jana Hemer, die die beobachtende, pragmatische Art des jungen Erzählers treffsicher wiedergibt.

Anregungen für eine Diskussion mit Kindern

Wer das Buch mit Kindern diskutieren möchte, könnte folgende Fragen stellen: Der Titel des deutschen Buches ist „Der erste Schritt“. Wann passiert dieser erste Schritt? Warum werden die Kinder so eingeteilt, wie sie eingeteilt werden? Ist es gerecht, dass die einen Kinder nicht so gut behandelt werden wie die anderen Kinder? Was denkt ihr über den Erzähler? Wie empfindet er die Einteilung? Ändert sich seine Meinung über die Schäfin und seine Freunde im Laufe des Buches? Warum will die Schäfin die Kinder in zwei Gruppen einteilen? Was wird wohl passieren, wenn die Schäfin aufwacht? Was ist die Bedeutung der weißen Linie?

Zum Weiterlesen: Einige Gedanken zur entworfenen Dystopie

Wir wissen aus der Psychologie und der Philosophie, dass bei Experimenten, bei denen es zwei Gruppen gibt, in denen die einen in irgendeiner Art und Weise privilegiert sind und die anderen nicht, die Konsequenzen oft brutal sind. Traurige Beispiele sind das „Stanford Prison Experiment“ oder auch Jane Elliotts „Anti-Rassism Experiment“, in welchem Menschen auf der Grundlage ihrer Augenfarbe eingeteilt werden und die eine Gruppe sehr viel besser als die andere behandelt wird. 

Was man bei diesen Experimenten sehen kann, ist, dass die privilegierte Gruppe ihre eigene Vorrangstellung rechtfertigt, obwohl es eigentlich keine rationale Rechtfertigung gibt, und dass sie die Machtstrukturen zu erhalten versucht. Dies oft mit brutalen und sehr repressiven Mitteln.

Was sehr interessant an diesen Experimenten ist, ist dass die Faktoren die zu der Einteilung  in die beiden Gruppen geführt haben, oft bewusst zufällig sind. Die Experimente zeigen, dass es fast egal zu sein scheint, nach welchen Faktoren wir einteilen, ob nach der Augenfarbe oder Sockenfarbe: Sobald es eine Einteilung gibt, wird auch versucht, diese Einteilung von der privilegierten Gruppe zu zementieren.

Was nun sehr interessant und schön an Pija Lindenbaums Geschichte ist, ist, dass sie uns nicht diese schwarze Seite des menschlichen Verhaltens und der menschlichen Psychologie aufzeigt, sondern einen anderen Weg: Bei ihr hinterfragen die privilegierten Kinder die Machtstrukturen, die es gibt, und brechen sie auf.

Die Frage ist, wie realistisch diese Darstellung menschlichen Verhaltens ist. In den Experimenten, die ich oben erwähnt habe, sind die Akteure keine Kinder. Es wäre auch moralisch nicht vertretbar, Kinder in derartige Experimente einzubeziehen – weder damals noch heute. (Übrigens ist es auch heute sehr fraglich, ob derartige Experimente für Erwachsene noch von Ethikkommissionen zugelassen werden würden).

Es ist aber leider wahrscheinlich, dass Kinder ein ganz ähnliches Verhalten an den Tag legen würden wie Erwachsene. Ein literarisches Beispiel, was diese Idee zu verdeutlichen sucht, ist das erschreckende Buch „Der Herr der Fliegen“, in welchem dargestellt wird, was passiert, wenn eine Gruppe Kinder auf einer einsamen Insel nach einem Flugzeugabsturz allein zurecht kommen muss. Die Folgen sind verheerend und die Abgründe tief.

Pija Lindenbaums Buch muss aber gar nicht realistisch sein. Sie entwirft eine Dystopie mit gutem Ausgang und stellt kindgerecht dar, wie eine friedliche Revolution gelingen kann.

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